Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit: Wie sich solidarisches Handeln während der COVID-19 Pandemie in Deutschland veränderte

Neue Studie von Franziska Schönweitz und Bettina Zimmermann

Während der COVID-19 Pandemie haben WissenschaftlerInnen und politische EntscheidungsträgerInnen immer wieder an die Solidarität appelliert, um die Bevölkerung zur Einhaltung von Schutzmaßnahmen zu motivieren. Je länger die Pandemie andauerte, desto mehr wurden jedoch die Grenzen der Solidarität deutlich. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Solidarität in Zeiten einer Pandemie“ (SolPan) hat unser Team drei Mal über eineinhalb Jahre 46 in Deutschland wohnhafte Erwachsene befragt. Wir wollten wissen, wie die Menschen die Pandemie in ihrem Alltag erleben, wie sie sich verhalten und warum.

Dabei stellten wir fest, dass in Deutschland – wie auch in anderen europäischen Ländern – die Solidarität eine tragende Rolle bei der Krisenbewältigung der Pandemie spielte. Gleichzeitig wurde aber auch ein verändertes Verhalten und Bewusstsein deutlich: Während solidarisches Handeln zu Beginn der Pandemie sehr prominent diskutiert und positiv bewertet wurde, ließ diese anfängliche Begeisterung schnell nach. Mit dem Fortschreiten der Pandemie unterstrichen die Befragten immer mehr die hohen individuellen und sozialen Kosten, die sie auf sich nehmen mussten, um sich und andere zu schützen. Dazu gehörte, dass man Familienmitglieder nicht besuchen durfte, die Kinder nicht in die Schule oder in den Kindergarten bringen oder seinen Hobbies nicht wie gewohnt nachgehen konnte.

Gleichzeitig bemerkten auch einige Teilnehmende, dass auch gerade die Schutzmaßnahmen Solidarität an vielen Stellen behinderten, weil man sich eben nicht mehr so nah sein und direkt unterstützen konnte. Auch verschwanden zwischen April 2020 und Oktober 2020 zunehmend die zu Beginn sprießenden Solidaritätsinitiativen, wie beispielsweise Angebote, füreinander einkaufen zu gehen. Als Grund hierfür nannten einige TeilnehmerInnen, dass man sich entweder nicht auf ihr Angebot gemeldet hatte oder auch, dass die betroffenen Personen sich inzwischen wieder selbst um ihre Einkäufe kümmern wollten. Gerade weil wenig Rückmeldung zu diesen Angeboten kam, nahmen einige Befragte dies auch als einen Mangel an Gegenseitigkeit wahr. Viele hätten sich gewünscht, dass ihr Angebot zumindest dankend abgelehnt oder anderweitig Wertschätzung erfahren hätte. Entsprechend teilten TeilnehmerInnen mit, dass sie sich mit fortschreitender Pandemie zunehmend auf das unmittelbare Umfeld, d. h. auf die Familie, Freunde oder die wichtigsten Nachbarn (von denen sie diese Wertschätzung erfuhren) konzentrierten.

Trotzdem betrachteten die TeilnehmerInnen Solidarität weiterhin als wichtig für die Bewältigung der Pandemie und forderten im Oktober 2020 und Oktober 2021, dass wissenschaftliche Einrichtungen, Behörden und einzelne politische Entscheidungsträger nicht ausschließlich auf individuelle Solidarität pochen sollten, sondern es auch vermehrt zu institutioneller Solidarität kommen muss. So veränderte sich für die TeilnehmerInnen im Verlauf unserer Studie das Empfinden, wer alles durch die Pandemie geschädigt wurde. Hierzu gehörten im Oktober 2020 und 2021 nicht mehr nur die älteren Bevölkerungsgruppen, sondern auch Kinder, Jugendliche, Pflege- und Krankenhauspersonal sowie Personen im Kunstgewerbe, Selbstständige und kleinere Betriebe. All diesen Menschen wurde, nach Einschätzung unserer Befragten, zu wenig Solidarität von Seiten der Behörden oder bei Beschlüssen entgegengebracht. Unsere Ergebnisse deuteten außerdem darauf hin, dass sich Sozialmaßnahmen, wie institutionelle, finanzielle Entlastung, nicht an alle richten müssen, sondern hauptsächlich an diejenigen, die als besonders belastet wahrgenommen wurden. Wenn diese Gruppen einerseits nicht unterstützt wurden, gleichzeitig aber auf individuelle Solidarität bestanden wurde, nahmen unsere TeilnehmerInnen das als unausgeglichene Verteilung von Solidarität und den damit einhergehenden Kosten wahr.

Unsere Arbeit hebt deutlich hervor, dass sich das kollektive solidarische Verhalten besonders zu Beginn positiv auf die Motivation der Menschen ausgewirkt hat, sich vor einer COVID-19 Ansteckung zu schützen. In zukünftigen Krisen ist es deswegen wichtig, diese kollektive Solidarität auch längerfristig zu stärken. Zentral für unser Verständnis ist dabei, dass Solidarität länger anhielt, wenn die Menschen eine Gegenseitigkeit wahrnahmen. Während der COVID-19 Pandemie kam es einigen Befragten so vor, als würden verschiedene Institutionen die Solidarität eher von Einzelnen verlangen als beispielsweise die Arbeitgeber (in Form einer Homeoffice-Pflicht) in die Verantwortung zu nehmen.

Basierend auf unserer Studie lautet unsere zentrale These, dass mit mehr solch institutionalisierter Solidarität in Form von Maßnahmen, die besonders Benachteiligte (wie zum Beispiel Kinder oder Menschen in betreuten Einrichtungen) berücksichtigen würden, auch die Motivation zum solidarischen Verhalten Einzelner gestärkt würde. Anstatt in Krisenzeiten zu individueller Solidarität aufzurufen, sollten die zuständigen Entscheidungsträger und Behörden daher die Einrichtung nachhaltiger sozialer Unterstützungssysteme in Erwägung ziehen, die über das unmittelbare Krisenmanagement hinausgehen. Diese Bestrebungen müssten auch transparent kommuniziert und die Wichtigkeit von Solidarität unterstrichen werden.

Zur Studie: https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-023-17521-7

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